FondsDISCOUNT.de: Herr Dr. Toncar, Sie sind Mitglied im Untersuchungsausschuss, der den Bilanzskandal rund um den insolventen Wirecard-Konzern prüfen soll. Wie gestaltet sich die Ausschussarbeit bislang und was sind die nächsten Schritte?
Florian Toncar: Wir wollen erreichen, dass sich der Untersuchungsausschuss in der knappen verfügbaren Zeit möglichst umfassend der Untersuchung widmen kann. Bisher hat der Ausschuss verschiedene Experten angehört, unter anderem den Journalisten Dan McCrum und den Bilanzexperten Thomas Borgwerth, die beide schon vor Jahren auf Unstimmigkeiten in der Wirecard-Bilanz aufmerksam gemacht haben. Ab dem 19. November steigen wir in die Zeugenvernehmungen ein. Geladen sind unter anderem der langjährige Wirecard-Chef Markus Braun, der ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende Wulf Mathias und weitere ehemalige oder noch aktive Manager.
Zentrales Ziel des Gremiums ist es zu prüfen, inwiefern die Bundesregierung und staatliche Stellen ihre Aufsichtspflichten verletzt haben. Welche Vorwürfe stehen hier konkret im Raum?
Unsere Aufsichtsbehörden haben trotz frühzeitiger und sehr detaillierter Hinweise vollkommen unzureichend reagiert. Noch schlimmer, die Aufsichtsbehörden haben Wirecard sogar Schützenhilfe geleistet. Zum Beispiel hat die Finanzaufsicht BaFin die Überbringer der schlechten Nachrichten, Journalisten und Whistleblower, bei der Münchner Staatsanwaltschaft angezeigt. Die BaFin warf der renommierten Financial Times vor, mit ihrer Berichterstattung den Markt manipulieren zu wollen und mit Leerverkäufern unter einer Decke zu stecken. Außerdem hat die Finanzaufsicht Leerverkäufe mit Wirecard-Aktien untersagt, das gab es vorher und hinterher noch nie. Die Anleger und Investoren konnten aus dem Verhalten der BaFin nur einen einzigen Schluss ziehen: Bei Wirecard ist alles in Ordnung, Wirecard ist das Opfer von Spekulanten, in Wirecard kann man weiterhin investieren. So kam es dann auch, und die Betrüger bei Wirecard konnten den Investoren immer neues Geld aus der Tasche ziehen und in dubiose Kanäle umleiten.
Nach bisherigem Stand machte der vormalige Dax-Konzern jahrelang Verluste und wies nach Annahmen der Münchener Staatsanwaltschaft bereits seit 2015 Scheingewinne aus. Im Sommer wurden Luftbuchungen in Höhe von rund 1,9 Milliarden Euro eingeräumt. Als Bürger fragt man sich, ob die Aufsichtsbehörden tatsächlich blind gegenüber dem aufstrebenden Börsenstar waren? Ohne die Arbeit des Untersuchungsausschusses vorwegzunehmen: Wie erklären Sie sich, dass solche Unregelmäßigkeiten so lange stattfinden konnten?
Ob wir hier schlicht über Versagen reden oder ob Wirecard als angebliches Vorzeigeunternehmen sogar unter politischem Schutz stand, wollen wir rausfinden. Es ist jedenfalls hoch interessant, dass die europäische Wertpapieraufsicht ESMA bei Wirecard einen „noch nie dagewesenen“ Einfluss des Bundesfinanzministeriums auf die BaFin festgestellt hat. Damit gerät auch Bundesfinanzminister Olaf Scholz ins Zentrum des Wirecard-Skandals.
Finanzminister Olaf Scholz hat bereits einen Aktionsplan für die Reform der Finanzaufsicht vorgelegt. Reichen die vorhandenen Kontrollmechanismen Ihrer Einschätzung nach aus oder gibt es Gesetzeslücken, die nachgebessert werden müssten?
Der Aktionsplan von Olaf Scholz ist mit heißer Nadel gestrickt, viele seiner Gedanken bleiben vage oder haben gar nichts mit Wirecard zu tun. Olaf Scholz möchte mit dem Aktionsplan von seiner Verantwortung für das Wirecard-Desaster ablenken und andere zu Sündenböcken machen, etwa die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung. Außerdem will Scholz Gesetzeslücken stopfen, die es gar nicht gibt. Es hätte ausgereicht, die vorhandenen Gesetze anzuwenden, etwa eine Durchsuchung bei Wirecard anzuordnen. Das Ganze ist also eher ein Aktionsplan zur Rettung des Kanzlerkandidaten als zur Verbesserung der Finanzaufsicht. Wir als FDP wollen stärkere Aufsichtsräte, starke und unabhängige Wirtschaftsprüfer und Aufsichtsbehörden, die die richtigen Schwerpunkte setzen und die Märkte besser verstehen. Dazu haben wir erste Vorschläge vorgelegt, weitere werden sich aus den Empfehlungen des Untersuchungsausschusses ergeben.
Welche Wirkung hat der Fall Wirecard auf die vielen Anleger, die auf das Geschäftsmodell von Wirecard gesetzt haben?
Das Ansehen des Finanzplatzes Deutschland hat stark gelitten, auch international. Viele Menschen sagen mir, dass sie sich auf die Einschätzung der BaFin und den Dax als Goldstandard der Börsenwelt verlassen haben. Für viele Anleger hat aber etwas anderes das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht: Gerade die Beschäftigten der BaFin, die das Unternehmen geschont und öffentlich verteidigt hat, waren ganz besonders stark in privaten Geschäften mit Wirecard-Aktien engagiert. Diese Kombination aus Aufsichtsversagen und Privatgeschäften ist desaströs und hat das Vertrauen in die BaFin nachhaltig zerstört. Die BaFin ist in der tiefsten Krise ihrer Geschichte, aber das scheinen dort ebenso wie im Bundesfinanzministerium nur sehr wenige wahrhaben zu wollen. Mir ist daran gelegen, dass das Wirecard-Desaster wirklich vorbehaltlos aufgearbeitet wird und wir dann auch gesetzliche und personelle Konsequenzen ziehen.
Für Anleger geht es immer um eine Abwägung zwischen Sicherheit und Schutz des Vermögens einerseits, andererseits aber auch – gerade im Nullzinsumfeld – um eine vernünftige Rendite. Wie sehen hier Ihre politischen Ansätze aus und wie kann Anleger- bzw. Verbraucherschutz zeitgemäß gestaltet werden?
Was wir brauchen, sind informierte Anleger, die wissen, welche Risiken sie eingehen und die durch funktionierende Kontrollinstanzen gegen kriminelles Handeln abgesichert werden. Was wir nicht brauchen ist Bevormundung und Scheinsicherheit. Es hat mit Anlegerschutz nichts zu tun, Anleger bei der Beratung mit Papier zuzuwerfen oder Anlageberatung durch Regulierung so teuer zu machen, dass sie sich für Kleinanleger immer weniger lohnt. Ebenso falsch sind die steuerlichen Regelungen der großen Koalition, mit denen die Berücksichtigung von Verlusten aus Kapitalanlagen massiv eingeschränkt wurde. Letztendlich stehen die Deutschen heute leider mit verhältnismäßig geringem Vermögen und niedrigen Renten da und die schlechte Aktienquote zeigt, dass viele nicht am Potenzial des Kapitalmarkts teilhaben. Es muss daher einen Richtungswechsel in der Politik geben. Beispielsweise sollten wir Anlagen zur eigenen Altersvorsorge nach fünf Jahren steuerfrei stellen und Riester deutlich vereinfachen, damit die Produkte wieder rentabel werden. Ich will eine Gesellschaft von finanziell unabhängigen Bürgerinnen und Bürgern, und davon sind wir leider aufgrund falscher Politik meilenweit entfernt.
Herr Dr. Toncar, herzlichen Dank für diese interessanten Einblicke in Ihre politische Arbeit!
Zur Person: Dr. Florian Toncar (FDP) ist Mitglied des Deutschen Bundestags und finanzpolitischer Sprecher seiner Fraktion. Dr. Toncar ist außerdem seit 2018 im Finanzausschuss und seit Oktober 2020 Mitglied im Untersuchungsausschuss zum Fall Wirecard. Weitere zentrale Themen seiner politischen Arbeit sind Wirtschaft, Digitalisierung und Bildung.